Studio Rex

Jean-Marie Donat Collection
1. Jun – 5. Sep 2024
Unknown © Grégoire Keussayan, Jean-Marie Donat Collection

Welche Geschichten verbergen sich in den Archiven von Fotostudios? Was erzählen uns Studioaufnahmen über die Lebenswege, Träume und Hoffnungen der porträtierten Menschen? Diese und andere Fragen sind eng mit der Geschichte des Studio Rex verbunden.

Das im Herzen des Marseiller Arbeiterviertels Belsunce gelegene Studio Rex wurde 1933 von Assadour Keussayan gegründet, einem Überlebenden des armenischen Völkermords in der osmanischen Türkei, der im Alter von 17 Jahren Zuflucht in der Hafenstadt fand. Zusammen mit seiner Frau Varsenik, die selbst aus Zypern stammte, und später mit seinen beiden Kindern Grégoire und Germaine wurde das Studio zu einer Familienangelegenheit. Es diente als Anlaufstelle für Migrant:innen aus Nord- und Westafrika sowie anderen Ländern, bis es 2018 geschlossen wurde. Vor zehn Jahren übernahm der französische Sammler Jean-Marie Donat einen großen Teil des umfangreichen Archivs mit Zehntausenden von Fotos und Fotonegativen, die hier zwischen 1966 und 1985 aufgenommen wurden. Ein Archiv, das persönliche und historische Erinnerungen verbindet.

Unknown © Jean-Marie Donat Collection
Unknown © Grégoire Keussayan, Jean-Marie Donat Collection

Die Bilder zeigen Menschen, die für ein offizielles Passfoto in förmlicher Kleidung und mit ernstem Blick posieren; auf anderen Fotos setzen sich Personen in eleganter Kleidung vor verschiedenen Kulissen in Szene, mit Requisiten wie Blumen und mit Ornamenten verzierte Paravents. Daneben gibt es handbemalte Fotomontagen, die jene vom Mittelmeer getrennte Familien wieder zusammenführen. Einige Bilder wurden aufgrund der schnellen Abreise nach einer lang erwarteten Arbeitszusage zurückgelassen – die nächste Station der Reise. Aus der Anonymität einer Gruppe heraus zeigt die Sammlung Menschen und ihre individuellen Geschichten, auch wenn diese nur vermutet werden können. Die Rückseiten der Fotografien tragen meist weder Namen noch Daten.

Vor dem Hintergrund des derzeitigen Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien und der xenophoben europäischen Abschottungspolitik bleiben die menschlichen Geschichten hinter der Migration, die Individuen und ihre Beweggründe oft unsichtbar. Der medial häufig stereotypisierten und negativen Darstellung von Migration setzt das Archiv fehlende Bilder der Selbstrepräsentation marginalisierter Menschengruppen gegenüber.

Zum ersten Mal in Deutschland präsentiert C/O Berlin einen großen Teil dieses Archivs, das nicht nur einen Dialog zwischen Afrika und Europa, sondern auch zwischen privatem und kollektivem Erinnern und Vergessen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart eröffnet.

Auch über Frankreich hinaus existierten zahlreiche Fotostudios, die eine ähnliche Geschichte aufweisen wie das Studio Rex. Unter dem Titel Where Have All The Studios Gone? bietet ein separater Raum einen Exkurs in die Geschichte und das Verschwinden lokaler Fotostudios in Berlin am Beispiel des 1885 gegründeten und ab 1945 in Kreuzberg beheimateten Studios Mathesie, das seine Türen 1993 wegen steigender Mietpreise schließen musste. Das Archiv, das 1998 Gegenstand einer wegweisenden Ausstellung in der nGbK und im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien war, umfasst 300.000 Negative, die heute dem Stadtmuseum FHXB in Kreuzberg gehören.

Unknown © Grégoire Keussayan, Jean-Marie Donat Collection
Unknown, photo montage © Grégoire Keussayan

C/O Berlin präsentiert eine Auswahl von Studioaufnahmen und Zeitungsausschnitten über das Studio Mathesie sowie die dazugehörige Ausstellung, die nicht nur einen Einblick in die Praxis der Studiofotografie geben, sondern auch ein vergangenes Stück Kreuzberger Stadtleben und seine Bewohner:innen, den Wandel der Zeit, der Mode und Gesten bezeugen. Eine Fotostudio-Kulisse lädt Besucher:innen ein, sich selbst zu fotografieren.

Im Dialog mit der Ausstellung Studio Rex eröffnet diese lokalgeschichtliche Intervention allgemeine Fragen nach der Rolle von Fotostudios in der visuellen Kultur, der Relevanz von (Selbst)-Repräsentation sowie den Herausforderungen, die beim Erzählen solcher Geschichten aufkommen können. Und schließlich, welche Bedeutung das Verschwinden dieses Gewerbes hat.

Die Ausstellung wurde von Boaz Levin, Kurator und Co-Programmleitung der C/O Berlin Foundation, und dem Sammler Jean-Marie Donat kuratiert.

Biografie

Jean-Marie Donat (*1962, Frankreich) ist ein Verleger und Sammler, der seit 2015 eine künstlerische Praxis rund um seine Fotosammlung entwickelt hat. Er leitet den Verlag Éditions Innocences, den er 2013 gegründet hat. Seine seit den 1980er Jahren aufgebaute Sammlung umfasst fast 40.000 Fotografien, Ektachrome und Negative aus der ganzen Welt, die mehr als ein Jahrhundert Geschichte (1880–1990) abdecken. Sie besteht hauptsächlich aus volkstümlichen, amateurhaften und anonymen Bildern. Ausstellungen dieser Serien wurden u. a. bei den Rencontres de la photographie in Arles (2015; 2022), im Kulturzentrum Le Centquatre (Paris, 2021) und bei der Triennale für Fotografie in Hamburg (2018) gezeigt. Außerdem sind zahlreiche Publikationen erschienen, zuletzt das Buch Tout doit disparaître. Regard sur la société de consommation (Innocences, 2021). Er lebt und arbeitet in Paris, Frankreich.

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