Kunst, Freiheit und Lebensfreude

Talents 32 . Emanuel Mathias / Sabine Weier
18. Apr 2015 – 14. Jun 2015
a.d.S.Kunst, Freiheit und Lebensfreude, 2013 © Emanuel Mathias
a. d. S. Kunst, Freiheit und Lebensfreude, 2013 © Emanuel Mathias
a. d. S. Kunst, Freiheit und Lebensfreude, 2013 © Emanuel Mathias
a. d. S. Kunst, Freiheit und Lebensfreude, 2013 © Emanuel Mathias
a. d. S. Kunst, Freiheit und Lebensfreude, 2013 © Emanuel Mathias
a. d. S. Kunst, Freiheit und Lebensfreude, 2013 © Emanuel Mathias
a. d. S. Kunst, Freiheit und Lebensfreude, 2013 © Emanuel Mathias

Stolze Aktivisten, erfüllte Jahrespläne, Urlaubsgrüße aus der DDR, illustre Betriebskollektivvertragsfeiern, Vietnam-Sammlungen und mosambiquanische Freunde – Brigadebücher geben einen einzigartigen Einblick in den Alltag arbeitender Menschen im real existierenden Sozialismus. Diese zeitgeschichtlichen Dokumente zeigen in Wort und Bild die Entwicklung von Arbeitskollektiven zwischen staatlich verordneter Inszenierung und privat-profanen Ereignissen. Emanuel Mathias hat aus 85 Brigadebüchern, die die Arbeiter der Leipziger Baumwollspinnerei zwischen 1961 und 1989 erstellt haben, rund 50 Seiten ausgewählt, bearbeitet und neu zusammengestellt. Anhand dieser speziellen Form geschichtlicher Aufarbeitung hinterfragt der Künstler die Wirkungsweise historischer Dokumente und Archive in Hinblick auf Identitätsbildung von Individuen und Gesellschaft. Wie funktioniert Erinnerung? Wie wird Vergangenheit konstruiert? Wie entsteht das kollektive Gedächtnis? 

Neben der Familie hatten Brigaden und Kollektive in der DDR eine enorme politisch-ideologische Bedeutung. Fast ausnahmslos waren alle erwachsenen Bürger in diesen Einheiten erfasst. Das Führen von Brigadebüchern war nicht freiwillig, sondern obligatorisch. Ziel war die Sicherung und Förderung sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen sowie die Einbindung des Individuums in die Staatspolitik. So zeigen die Bücher Höhepunkte der Arbeitsgruppen, deren Erfolge und Probleme – meist chronologisch, nicht systematisch und logisch strukturiert. Eine semi-öffentliche und halb-private Inszenierung, die den sozialistischen Gesellschaftsmythos reproduziert. Mit dem Untergang der DDR 1989 fand die Dekonstruktion einer Nationalidentität mit samt ihren Geschichten und sozialen Codes statt, also eine Destabilisierung eines kulturellen Gedächtnisses.

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Emanuel Mathias bearbeitet dieses historische Material und kompiliert mit der Serie „Kunst, Freiheit und Lebensfreude“ eine Art Erinnerungsraum, in dem der Betrachter mit Versatzstücken der DDR-Vergangenheit konfrontiert wird. Inhaltlich greift die Arbeit drei große Themen auf, die eng miteinander verzahnt sind: Archiv, Gedächtnis und Fotografie. Formal besteht sie aus zwei Teilen. Für den ersten wählt Mathias einige Seiten aus den Brigadebüchern aus, reproduziert sie und versieht sie mit einem Passepartout. Indem er die Bilder freistellt, aber ihre Positionierung auf der Seite beibehält, inszeniert er sie neu, ohne dabei den Bezug zum Ausgangsmaterial zu verlieren. Für den zweiten Teil sucht der Künstler zehn Textstellen mit Abmahnungen aus und lässt sie auf Baumwolltücher sticken. Duktus und Farbigkeit der im Original handschriftlich gestalteten Textstellen behält er bei.

Mit dieser Arbeit entwickelt Emanuel Mathias eine neue Form der Aufarbeitung und steuert den Prozessen der Verdrängung und des Vergessens entgegen. Gleichzeitig nimmt seine Arbeit selbst die Form eines Archivs an und nutzt dessen Ästhetik, um zu untersuchen, wie Erinnerung konstruiert wird – nämlich in Abhängigkeit von Archiven und darin gespeicherten Dokumenten. Jedes Bild der Serie ist mit einer Beschriftung versehen, vermeintlich wissenschaftlich-objektiv, jedoch führt Mathias die in der Beschriftung angelegte Ordnung ad absurdum. Denn Referenzen bleiben uneindeutig, lückenhaft und fragmentarisch – wie Archive und der Prozess der Erinnerung selbst. Indem Emanuel Mathias einzelne Momente isoliert und neu zueinander in Beziehung setzt, unterwandert er die Logik des Archivs und des Brigadebuchs selbst, dessen Funktion es ursprünglich war, Arbeiterkollektive und deren Einbettung in die Gesellschaft medial zu konstruieren.

Emanuel Mathias, geboren 1981, studierte Fotografie bei Timm Rautert und Christopher Muller in Leipzig. Nach dem Diplom 2009 beendete er im September 2011 sein Studium als Meisterschüler von Tina Bara. Seit 2003 nahm er an verschiedenen Ausstellungen teil, zuletzt in „Kino und der kinematografische Blick“, Kunsthalle Memmingen und „Gold“ (Einzelausstellung) in der Galerie M2A, Dresden (beide 2013). Unterstützt von der IFA und dem DAAD verbrachte er 2011 und 2012 mehrere Monate in Istanbul, Türkei. 2011 erhielt er den Marion-Ermer Preis und 2013 den SYN Award der SYN Stiftung in Kooperation mit der Stiftung Bauhaus Dessau und einen damit verbundenen dreimonatigen Aufenthalt am Bauhaus. Emanuel Mathias lebt und arbeitet in Leipzig. 

Sabine Weier, geboren 1980, studierte Medien- und Kommunikationswissenschaft, Anglistik und Hispanistik mit den Schwerpunkten Medientheorie und Bildwissenschaft. Seit einigen Jahren schreibt sie als freie Journalistin und Autorin über zeitgenössische Kunst. Für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen bespricht sie Ausstellungen und berichtet von internationalen Kunstveranstaltungen. Festivals wie die Transmediale oder Tanz im August hat sie in festivaleigenen Blogs mit kunstkritischen Texten begleitet. Darüber hinaus verfasst sie Essays für Publikationen und Ausstellungsbeiträge für Institutionen wie die Schirn Kunsthalle in Frankfurt. Sabine Weier lebt und arbeitet in Berlin.

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